Das Literarische Bautagebuch

Das Hauptmann Haus Hiddensee und das Dix Haus auf der Höri: Zwei Künstlerhäuser aus der Hand des Architekten Arnulf Schelchers

Zu Gast bei Otto Dix auf der Höri. Ein Beitrag von Franziska Ploetz, Direktorin Gerhart Hauptmann Haus Hiddensee

Es gibt in Deutschland zwei Künstlerhäuser, die vom selben Architekten in ähnlicher Zeit konzipiert worden sind: Das Sommerhaus des Dramatikers Gerhart Hauptmann auf Hiddensee und das Wohnhaus des Malers Otto Dix in Hemmenhofen auf der Höri. Die beiden Häuser trennen 1.100 km –  innerhalb Deutschlands ist eine größere geographische Distanz nicht denkbar. Hemmenhofen liegt am Untersee, der sich bei Konstanz mit dem Bodensee verbindet. Vom Wohnhaus der Familie Dix blickt man auf die schweizerische Seite des Sees. Hiddensee liegt westlich von Rügen in der Ostsee, an klaren Tagen kann man von der Steilküste aus die dänische Insel Møn sehen.

Seit ich im Gerhart Hauptmann Haus auf Hiddensee arbeite, das seine heutige Gestalt zu großen Teilen dem Dresdner Architekten Arnulf Schelcher verdankt, verspüre ich den Wunsch, das „andere“ Haus Arnulf Schelchers zu besuchen, das Wohnhaus der Familie Dix – so wie man das Bedürfnis hat, einen unbekannten Verwandten kennenzulernen. Der Architekt ist mir eher vertraut als bekannt. Vertraut dadurch, dass ich seit siebzehn Jahren in den von ihm für Hiddensee konzipierten Räumen arbeite und lebe und mich sowohl seine Stilistik (die Sachlichkeit der frühen 1930er Jahre, Elemente aus dem Art Deco, Anklänge an das Bauhaus, auch eine gewisse Verspieltheit) als auch die von ihm gewählte Materialität (Backstein, Travertin, Holz, Linoleum) täglich umgeben. Mein faktisches Wissen zu Arnulf Schelcher allerdings ist spärlich und nährt sich fast ausschließlich aus Bezügen zur Familie Hauptmann, über Arnulf Schelcher ist prinzipiell wenig bekannt.

Arnulf Schelcher, Mararete und Gerhart Hauptmann vor dem Dresdener Zwinger. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin

Arnulf Schelcher (1886-1966) war gebürtiger Dresdner, studierte Architektur und arbeitete vor allem in Dresden und in Leipzig. Nach dem 2. Weltkrieg lebte er in den USA bis er 1956 nach Deutschland zurückkehrte und nach München zog. Als Architekt konzipierte und baute er vor allem Wohnhäuser und Stadtvillen und galt als Vertreter eines neuen Wohntypes im Stil der Dresdner Neuen Sachlichkeit, als solcher war er u.a. auf der Internationalen Hygieneausstellung von 1930 mit einem Modellbau präsent.

In der Schulzeit in Dresden auf der dortigen „Kreuzschule“ lernte Arnulf Schelcher den gleichaltrigen Ivo Hauptmann kennen. Der älteste Sohn Gerhart Hauptmanns lebte seit der Trennung der Eltern mit der Mutter Marie Hauptmann und zwei Brüdern in Dresden-Blasewitz. Aus der Begegnung ergab sich eine lebenslange Freundschaft, die auch die Elterngeneration einbezog, was sich in der Korrespondenz zwischen Gerhart und Ivo Hauptmann widerspiegelt. Dort ist beispielsweise von einem gemeinsamen Besuch der beiden Schulfreunde zum Jahreswechsel 1904 im Hause Gerhart und Margarete Hauptmanns die Rede und auch in den späten Briefwechseln der 1940er Jahre werden Grüße an „Schelli“ ausgerichtet. Offensichtlich war die Beziehung zwischen den Generationen wechselweise von so viel Achtung und Anerkennung geprägt, dass sich Gerhart Hauptmann 1930 entschloss, den Erweiterungsbau seines frisch erworbenen Sommerhauses auf Hiddensee in die Hände des Jugendfreundes seines Sohnes zu geben. Es war dasselbe Jahr, in dem Arnulf Schelcher auf der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden vertreten gewesen war, er muss also als ein Architekt auf der Höhe der Zeit gegolten haben. In Bezug auf Gerhart Hauptmann ist dies insofern interessant, als dass es einmal mehr zeigt, dass Hauptmann wenn er baute, zeitgemäß modern baute – ganz ähnlich war er auch schon bei seiner 1901 errichteten Villa „Wiesenstein“ verfahren. Nun hielt mit Arnulf Schelcher ein Stück Neue Sachlichkeit auf Hiddensee Einzug.

In der architektonischen Beziehung zwischen dem Gerhart Hauptmann Haus auf Hiddensee und dem Otto Dix Haus auf der Höri ist Dresden der Dreh- und Angelpunkt. Denn es war ein weiterer Dresdner Kontakt, der Arnulf Schelcher fünf Jahre nach dem Bau des Hauptmannschen Sommerhauses auf Hiddensee zu einem Auftrag am entgegengesetzten Ende Deutschlands führten sollte. Im Freundeskreis des Dresdner Großindustriellen, Kunstsammlers und Mäzens Fritz Bienert (der erste Mann von Gret Palucca) hatte Arnulf Schelcher den Maler Otto Dix kennengelernt, der aus Gera stammend erst an der Dresdner Kunstgewerbeschule, später an der Akademie der Künste gelernt und studiert hatte und seit 1927 eine Professur an der Kunstakademie Dresden innehatte. Gründungsmitglied der Dresdner Sezession Gruppe 1919, beeinflusst durch den Dadaismus und verankert in der Neuen Sachlichkeit war der Maler vor allem profiliert durch seine die physische und psychische Barbarei des Kriegs darstellenden großformatigen Bilder. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war Otto Dix einer der Ersten, der seine Professur an einer Staatlichen Hochschule verlor. Er zog sich daraufhin mit seiner Frau, Martha Dix und drei gemeinsamen Kindern nach Süddeutschland zurück. Martha Dix, die aus einer großbürgerlichen Kölner Familie stammt, sah sich durch eine Erbschaft in die Lage versetzt, in Hemmenhofen am Untersee – die Schweiz zum Greifen nah – ein Baugrundstück zu erwerben und ein geräumiges Domizil zu bauen. Mit dem Entwurf desselben wurde Arnulf Schlecher betraut, der Freund der Familie aus Dresdner Tagen, die Bauausführung lag bei Alfred Nägele, Bauherrin war Frau Prof. Dix. Im September 1936 bezogen die Dixens ihr neues Haus, für Otto Dix wurde es zur Heimstatt bis zu seinem Tod 1969, Martha Dix bewohnte es bis 1979, dann zog sie zu ihrer Enkelin nach Südfrankreich, wo sie 1985 starb.

Als ich im Sommer 2022 das Otto-Dix-Haus in Hemmenhofen besuche – seit 2013 ist es denkmalgerecht saniert und konzeptionell überarbeitet Teil des Kunstmuseums Stuttgart –, ist es tatsächlich so, als stünde ich einem mir bisher unbekannten Verwandten gegenüber, dessen Züge mir aber sogleich vertraut sind. Zum einen ist es die mir bekannte Formensprache, die grundlegende stämmige Gestalt des Hauses mit elegantem Pagodendach, die Kastenfenster, der Rundbogen der Eingangstür und die geschwungene Treppe ins Obergeschoss, wenngleich letztere in Hemmenhofen um einiges individueller ausgefallen ist, hat doch Otto Dix hat die Form der Zeit durch den eigenen Entwurf davon veredelt. Vor allem aber lassen die flachen Fledermausgauben des Dachgeschosses in mir den Eindruck entstehen, ich müsste beim Blick aus dem Fenster Hiddensee, den Bodden und das Meer und nicht den Untersee vor Augen haben. Außerdem umgibt mich bei Dix auf der Höri das gleiche Material wie bei Hauptmann auf Hiddenseee: in Sandstein gefasste Türen, der Klinker als Substanz und Gestaltungsmittel, die Böden des Hauses mit rotem Linoleum, Holz und Travertin. Beide Häuser sind zudem mit allem in der Zeit möglichen Komfort ausgestattet: Zentralheizung (die massiven Heizkörper der 1930er Jahre sind an beiden Orten erhalten), Bäder mit Badewanne, fließendes Warmwasser und Elektrizität. Damit stachen zur Zeit der Erbauung beide Häuser aus dem sie jeweils umgebenden ländlichen Ausstattungsniveau anderer Häuser heraus.

Letzteres verweist auf eine wenngleich zeitlich verschobene parallele kulturgeschichtliche Entwicklung der beiden Regionen: Als Gerhart Hauptmann 1885 Hiddensee für sich entdeckte, war dies ein für den Fremdenverkehr völlig unerschlossener ländlicher Ort, es gab nicht einmal eine reguläre Fährverbindung auf die Insel. Erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stiegen die Gästezahlen und es entstanden die ersten Pensionen und Sommerhäuser. In den 1920er und frühen 1930er Jahren schließlich wurde die Insel zur „Künstlerinsel“, Gerhart Hauptmann bezeichnete sie als das „geistigste aller deutschen Seebäder“. Bis heute ist die Ländlichkeit der ganzen Region prägend und grundlegend für deren Attraktivität. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Höri. Auch sie sollte bekannt dafür werden, dass sich etliche Künstler auf sie zurückzogen, aus politischen und später aus künstlerischen Gründen. Als die Dixens aber bauten, stand diese Entwicklung erst an ihrem Anfang und einer der Söhne der Familie berichtet, dass damals der Landstrich noch ausschließlich landwirtschaftlich genutzt, die Straßen ungepflastert (das sind sie auf Hiddensee zu Teilen bis heut) und Wiesen, Felder, Wälder und Schilfgürtel intensiv bewirtschaftet waren. Bis heute hängt dem Ort Hemmenhofen etwas sympathisch Verschlafenes an, er ist unmodern im besten Sinne.

Sehr verschieden waren allerdings die emotionalen Reaktionen der beiden Hausherren auf die sie umgebende Ländlichkeit. Zumindest anfangs hasste Otto Dix das Leben auf dem Land, er sagte: „ein schönes Paradies. Zum Kotzen schön … Die Schönheit der Natur, in die ich verbannt bin; ich gehöre doch nicht dahin … ich müsste in der Großstadt sein. Ich stehe vor der Landschaft wie eine Kuh.“ Gerhart Hauptmann hingegen sehnte sich Zeit seines Lebens nach dem allerersten Eindruck von „Weltabgeschiedenheit“, den er 1885 von Hiddensee bekommen hatte zurück, und sah den zunehmenden Fremdenverkehr und die atmosphärische Verstädterung auf der Insel mit Skepsis. Entscheidend für diese Differenz ist aber natürlich die Tatsache, dass Gerhart Hauptmann und Familie das Haus auf Hiddensee nur im Sommer als Zweitwohnsitz nutzten und diese Region freiwillig auserkoren hatten, währenddessen Otto Dix aus seinem Amt in der Kunststadt Dresden gedrängt worden war und die Höri für ihn und seine Familie einen Zufluchtsort darstellte.

Das wiederum ist es, was heute am Haus der Dixens am meisten berührt. Von Grundstück und Haus aus sieht man fast aus jedem Winkel auf die Schweiz. Von den Fenstern der Schlaf- und Wohnräume, dem Garten und der Terrasse fällt der Blick auf auf den Untersee und auf die schweizerische Seite des Untersee – die Grenze ist zum Greifen nah. Dass diese Tatsache immer vor Augen stand, wird für die Familie Dix nach 1933 und den Erfahrungen in Dresden sicherlich ein Grund für die Wahl des Baugrundstücks gewesen sein. Gerhart Hauptmann brauchte diese Absicherung zu Lebzeiten nicht – er liebte an der Insel den landschaftlichen Kontrast zu seinem Hauptwohnsitz in Schlesien. Für eine andere Generation sollte dies aber ein entscheidender Anziehungsgrund für Hiddensee werden: In den Jahren bis 1989 war Hiddensee auch deshalb ein Sehnsuchtsort, weil man sich auf der Insel am Rande der DDR und am Rande der sozialistischen Gesellschaft befand – bei klarem Wetter konnte man die Insel Møn sehen, „Sehnsuchtsblick“ wurde diese Aussicht genannt. Die Sehnsucht in Realität umzusetzen, versuchten Einige – etliche Fluchtversuche über das Meer endeten tragisch.

Eine letzte Gemeinsamkeit der Häuser sei noch erwähnt: Für heutige Besucher spielt an beiden Orten der Keller eine besondere Rolle. Er verweist auf glückliche Augenblicke der Familien. Im Gerhart Hauptmann Haus kann man in die Unterkellerung des gotisierenden Kreuzganges hinabsteigen, wo in einer eigens dafür erdachten Konstruktion aus Tonröhren die Weinvorräte des Dramatikers lagerten. Jeden Sommer ließ er sich aus dem Badischen beliefen, und zwar immer, bevor er selbst anreiste. Dieser Vorgang war so prominent, dass es auf Hiddensee ein Sprichwort gab: „Der Sommer fängt an, wenn die Weinlieferung von Hauptmann ankommt und er ist zu Ende, wenn der Weinkeller leer ist“. Margarete und Gerhart Hauptmann hatten oft Abendgesellschaften und, glaubt man den diesbezüglichen Schilderungen von der Stummfilmdiva Asta Nielsen oder dem damaligen Pfarrer der Insel Arnold Gustavs, muss es dabei ausgesprochen heiter zugegangen sein, davon ist der Weinkeller ein Zeugnis. Im Otto-Dix-Haus hingegen ist es ein regelrechter kunsthistorischer Schatz, der im Keller zu finden ist. Während einer Fastnachtsfeier 1966 bemalten Otto Dix und seine Freunde die Kellerwände mit fastnächtlichen Gestalten, groß, bunt und raumgreifend. Für Jahrzehnte verschwanden die Zeichnungen hinter Bücherregalen und wurden erst im Zuge der Sanierung 2012 wiederentdeckt. Seitdem verweisen auch sie auf die Lebensfreude der Bewohner des Hauses, im Falle der Dixens einer Familie, in der Malerei, Bücher, Tanz, Jazz und Geselligkeit eine so große Rolle spielte – auch in ausgesprochen schwierigen Zeiten, politisch und privat.